Archiv für Januar, 2013

Brien, Hans und Eef sind drei befreundete junge Männer, die noch bei ihren Eltern in Maassluis, einem verschlafenen Dorf bei Rotterdam, wohnen. Ihre große Leidenschaft sind Motocross-Rennen, das große Vorbild von Brien und Hans, die bereits Amateurrennen fahren, ist der erfolgreiche niederländische Rennfahrer Gerrit, der gerade um den Sieg bei der Weltmeisterschaft kämpft. Richtig Bewegung in das Leben der drei Jungs kommt aber erst, als die attraktive Fientje und ihr Bruder im Dorf mit ihrem Imbisswagen Station machen. Alle drei vergucken sich sofort in die kesse Blondine und wetteifern um ihre Gunst. Fientje lässt sich auch tatsächlich nacheinander mit ihnen ein, allerdings immer nur so lange, wie sie sich von der jeweiligen Beziehung eine Chance verspricht, ihrem tristen Leben in der Pommesbude zu entkommen…

Drei Jahre nach seinem großen Erfolg im Heimatland mit „Soldaat van Oranje“ drehte Paul Verhoeven dieses Jugenddrama, mit dem er seinen Fokus statt auf die Rolle der Niederlande in der Weltgeschichte wieder auf alltägliche Geschichten von „kleinen“ Leuten richtete. Seine beiden Stammschauspieler der damaligen Zeit und Stars des Vorgängerfilms, Rutger Hauer und Jeroen Krabbé, besetzte er diesmal nur in Nebenrollen, den einen als Rennfahrer-Idol, den anderen als etwas schmierigen Sportreporter. Die Helden seines Films sind hingegen die drei weitgehend unbekannten Jungdarsteller. Besonders sympathisch sind einem diese anfangs nicht. Nicht nur, dass ihnen kein dummer Spruch und keine peinliche Aktion zu schade ist, um Frauen anzumachen, sie demütigen und beschimpfen auch Schwule nachts auf der Straße. So verhindern Verhoeven und sein Stammautor der niederländischen Jahre Gerard Soeteman bewusst, dass der Zuschauer sich zu stark mit den Figuren identifiziert. Ihr Leben spielt sich zwischen Kleinstadttristesse, mal mehr, mal weniger strengen Eltern, oberflächlichen Beziehungen zu Frauen und der Rennbahn ab – bis Fientje in ihr Leben tritt.

Die ebenso selbstbewusste wie ehrgeizige Fremde (Renée Soutendijk, damals eine der heißesten Schauspielerin der Niederlande, spielte auch in Verhoevens nächstem Film „Der vierte Mann“ und an der Seite von Marius Müller-Westernahgen in Blumenbergs „Der Madonna-Mann“) wird zum Katalysator ihrer Träume von einem aufregenderen Leben, von Ruhm, Geld und dem Ausbrechen aus der heimatlichen Enge. Während Brien und Hans von einer Rennfahrerkarriere träumen, will Eef nach Kanada auswandern. Aber natürlich kommt alles anders: Brien wird nach einem Motorradunfall querschnittgelähmt, bei Hans reicht das Talent nicht und Eef, der in Rotterdam regelmäßig Schwule überfällt, um sich seine Reise zu finanzieren, bekommt die Rache seiner Opfer zu spüren. Fientje wandert von einem zum anderen und muss erleben, wie ihre Ambitionen nach und nach zerplatzen.

„Spetters“ ist ein typischer Verhoeven-Film. Es gibt Gewaltausbrüche, krasse Sexszenen und anzügliche Sprüche en masse. Immer wenn man gerade denkt, der Regisseur wüsste genau, was er tut, wenn die Kamera etwa gerade ein besonders schönes Bild einfängt, serviert er uns einen völlig unerwarteten Schnitt etwa auf Briens erigiertes Glied, das in den Bildvordergrund ragt, während Fientje sich daran zu schaffen macht. Es folgen noch ein (offensichtlich echter) Blowjob zwischen zwei Homosexuellen in einem U-Bahn-Schacht und später eine heftige anale Gruppenvergewaltigung. Meistens haben diese Szenen aber ihre dramaturgische Funktion für den Fortgang der Handlung. Verhoeven verwendet sie nicht aus Sensationslust, sondern weil er das Leben eben in seiner ganzen Bandbreite abbilden will statt verschämt wegzublenden. Das ist grundsätzlich absolut richtig, seltsam wird es aber, wenn dem Vergewaltigten dadurch seine eigene Homosexualität bewusst wird und er danach mit einem der Vergewaltiger noch mal richtigen Sex haben will.

Ähnlich wie in Verhoevens wohl bekanntestem niederländischen Film „Turks Fruit“ kippt die Stimmung auch hier etwa in der Mitte völlig, als Brien seinen Unfall hat. Aus einer leichten Alltagskomödie wird plötzlich ein ernstes Drama, wobei es ihm problemlos gelingt, den Zuschauer die existenziellen Nöte des Protagonisten mitfühlen zu lassen. Gegen Schluss überschlagen sich die parallel geschnittenen Ereignisse zwischen den verschiedenen Handlungssträngen fast, bevor der Film leicht melancholisch, aber fast optimistisch endet. Mit seinem (vorerst) vorletzten im Heimatland entstandenen Film, bevor er seine internationale Karriere mit im Ausland gedrehten Filmen begann, erweist sich Verhoeven als stilsicherer Regisseur, der es versteht, den Alltag mit seinen kleinen Sorgen und großen Katastrophen ungeschliffen und rau einzufangen. Dabei schafft er es, immer unterhaltsam zu bleiben, nie zu langweilen und den Zuschauer in ein wahres Wechselbad der Gefühle zu stürzen. Wer keine Angst vor krassen Sex- und Gewaltszenen hat, sollte sich unbedingt darauf einlassen.