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Eternauta

In diesem Jahr brachte der Berliner avant-Verlag den argentinischen Comicklassiker „Eternauta“ endlich in einer deutschen Ausgabe heraus. Das von 1957 bis 59 entstandene Werk hat in Argentinien bis heute eine große Bedeutung, vor allem, weil seinem Autor ein Schicksal widerfuhr, das wie eine Wiederholung dessen gelesen werden kann, das er selbst in seiner Geschichte schilderte: Héctor German Oesterheld schloss sich in den 1970er Jahren gemeinsam mit seinen vier Töchtern der Widerstandsbewegung gegen die Militärdiktatur an und ging in den Untergrund. Alle fünf fielen dem Terrorregime zum Opfer, Oesterhelds Leiche wurde bis heute nicht gefunden. Diese ebenso tragische wie wütend machende Familiengeschichte erzählt die Journalistin Anna Kemper in einem ausführlichen Zeit-Artikel, der in dem Buch abgedruckt ist.

Aus heutiger Sicht wirkt Oesterhelds Science-Fiction-Erzählung wie eine düstere Prophezeiung, wie eine vorweggenommene Parabel auf die reale Situation in seinem Heimatland 15 Jahre später. Das verleiht dem Werk eine zusätzliche Qualität. Aber auch ohne dieses Wissen wäre es schon bemerkenswert, was an der Dichte der Erzählung liegt wie auch am Talent des Zeichners Francisco Solano Lopez.

Die Geschichte beginnt in einer Nacht des Jahres 1959, als ein Comicautor in Buenos Aires (unschwer als Oesterheld selbst zu erkennen) einsam in seinem Zimmer vor sich hin arbeitet, als plötzlich wie aus dem Nichts ein geheimnisvoller Besucher erscheint: Der Fremde nennt sich selbst „El Eternauta“, der ewige Reisende oder durch die Ewigkeit Reisende. Er beginnt, ausführlich zu erzählen, was ihm passiert ist, seit in einer ebenso ruhigen Nacht in der gleichen Stadt seine Welt auf den Kopf gestellt wurde: Gemeinsam mit drei Freunden sitzt der Mann, mit bürgerlichem Namen Juan Salvo, in seinem Haus beim Kartenspiel, als sich draußen merkwürdige Dinge abspielen: zunächst Schreie und Unfallgeräusche, dann plötzlich ungewohnte Stille. Beim Blick aus dem Fenster müssen die Freunde feststellen, dass ein tödlicher Schnee fällt, der offenbar jeden, der damit in Berührung kommt, auf der Stelle umbringt. Mit viel Glück und Überlegung gelingt es den Männern sowie Salvos Ehefrau und kleiner Tochter zu überleben. Sie basteln sich aus Taucheranzügen Schutzanzüge, um draußen nach Nahrung, Wasser und Benzin suchen zu können. Doch Gefahren lauern nicht nur von anderen Überlebenden, die weniger mitfühlend sind als sie selbst.

„Eternauta“ beginnt also wie eine klassische postapokalyptische Geschichte à la „Walking Dead“ (nur um ein Vielfaches besser geschrieben), in der eine kleine Gruppe Überlebender versucht, sich an die neuen Bedingungen anzupassen. Mit der Zeit erkennen diese aber, dass das, was sie bis dahin für die Folge eines misslungenen Atomtests hielten, eine noch weitaus schlimmere Ursache hat: Die Erde ist einer außerirdischen Invasion zum Opfer gefallen, die den Planeten erobern und „säubern“ will. Nach knapp 100 Seiten stoßen Salvo und seine Freunde auf eine Militäreinheit, die den Angriff ebenfalls überstanden hat und den Widerstand gegen die Besatzer organisiert. Nun wechselt der Comic von einer Seite zur nächsten das Genre und wird über weite Strecken zu einer Kriegsgeschichte mit detaillierten Schilderungen von Militärtaktiken und -missionen. Wobei die Menschen immer wieder in schier aussichtslose Situationen geraten, die Helden aber doch immer in letzter Minute durch einen Trick oder einfach durch Glück überleben. Aber immer, wenn sie Hoffnung schöpfen, den Krieg doch noch gewinnen zu können, erweisen sich die Aliens als technisch noch überlegener als angenommen.

Hoch anzurechnen ist dem Autor dabei, dass er sich nicht nur herkömmlicher Versatzstücke aus ähnlichen Alieninvasionsgeschichten bedient, sondern etwa der Spezies, die den Angriff steuert, ein menschliches Gesicht verleiht. Auch diese stellen sich nämlich als Gefangene der eigentlichen Invasoren heraus, die andere Lebensformen von fremden Planeten versklaven, um wiederum andere Planeten zu erobern. Am Ende der Geschichte, nach gut 350 Seiten, gelingt es Salvo, mit einer Zeitmaschine der Aliens zu entkommen, verliert dabei aber seine Familie, die in eine andere Dimension geschleudert wird. Nach einer endlosen Suche durch Raum und Zeit (die aber nicht gezeigt wird), landet er schließlich im Zimmer des Comicautors. Als er erfährt, dass er im Buenos Aires des Jahres 1959 angekommen ist, gerät er in Euphorie: Das bedeutet, dass seine geliebte Frau und Tochter ja noch in der gleichen Stadt leben, die tödliche Invasion sich noch gar nicht ereignet hat! Die Geschichte endet mit einem Zirkelschluss: Der Comicautor weiß nicht, ob in vier Jahren all das Schreckliche, von dem ihm der Fremde berichtet hat, tatsächlich in seiner Heimatstadt und auf der ganzen Erde passieren wird.

Oesterheld hat diese ebenso epische wie bedrückende Geschichte wie einen Roman geschrieben: Der Comic ist durch die vielen Erzähltexte mit den Gedankengängen des Helden sehr textlastig geworden. Vieles davon ist redundant, weil es entweder nur das beschreibt, was in den Bildern sowieso zu sehen ist, oder zusammenfasst, was unmittelbar zuvor passiert ist (letzteres ist wohl der ursprünglichen Veröffentlichungsform in Fortsetzungen in einem Comicmagazin geschuldet). Das macht das Lesen einerseits anstrengend, andererseits erreichen die oft sehr poetischen Formulierungen eine literarische Qualität. Vor allem ist die Story aber unheimlich spannend und intensiv erzählt, zudem ist es eine der tragischsten Comicgeschichten, die ich gelesen habe. Lopez zeichnet extrem detaillierte Gesichter; mit seiner Stricheltechnik arbeitet er Hautpartien und Muskeln wie ein Bildhauer quasi „von innen“ heraus. Zusammen mit den Straßenzügen und städtischen Wegmarken von Buenos Aires schafft das eine authentische Atmosphäre, so dass man sich trotz der Fantastik der Geschichte wie in einem realistischen Bericht fühlt.

Neben der kompletten Urfassung des Comics (später versuchte sich Oesterheld noch an weiteren Versionen der gleichen Geschichte) enthält der deutsche Band eine kurze Einführung in das Gesamtwerk des Autors sowie eine Analyse der Erzählung vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse in Argentinien. Durch diese Bezüge wirkt der Comic heute wie eine weitsichtige Parabel auf die argentinische Gesellschaft während des Militärregimes. Aber auch darüber hinaus ist er ein wichtiges Werk des internationalen Comics, das sich kein Liebhaber des Mediums entgehen lassen sollte.

avant-Verlag 2016, 392 Seiten, Hardcover Querformat, 39,95 €

 

Als ich einmal bei einem Literatursalon war

Veröffentlicht: 24. März 2012 in Allgemeines, Bücher
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Eine Erregung fast Proust’schen Ausmaßes ergriff mich, als ich mich gestern auf den Weg zum ersten Literatursalon meines nicht mehr ganz so jungen Lebens machte. Wein, Speis und Gesang waren mir von kundigen Stammgästen verheißen worden, eventuell sogar Weib. Allerdings auch, dass der Altersdurchschnitt der Besucher schon alleine durch mein Auftauchen beträchtlich gesenkt werden könne. Tatsächlich fand ich, nachdem ich auf dem unbeleuchteten Fahrrad meinen Weg durch mir bis dato völlig unbekannte Wohnviertel meines Stadtteils gefunden hatte (wobei ich an einer roten Ampel von einer radfahrenden älteren Besucherin des Salons überholt worden war, der im Gegensatz zu mir wohl die Geduld fehlte, jetzt noch auf so etwas Profanes wie Verkehrsregeln acht geben zu müssen), beim Eintreten in die Wohnung eine Schar überwiegend schon etwas reiferer Herrschaften vor.

Während die Groupies der beiden eingeladenen Schriftsteller bereits im Backstagebereich – der wohl im Alltag die Bibliothek war – ungeduldig mit den Füßen scharrten, suchte ich mir einen Platz in der vorletzten Reihe. Wenig später traf noch ein mittelalter Herr mit einem großkrempigen schwarzen Hut ein, nahm auf dem Sofa hinter mir Platz und seine auffällige Kopfbedeckung für den Rest des Abends nicht mehr ab, wohingegen der Alkoholgehalt seines Blutes stetig zunahm. Ich beobachte bei Lesungen immer wieder, dass der Genuss des einen oder anderen Glases Rotweins für viele Besucher ein Hauptgrund zu sein scheint, das eigene Haus zu verlassen. Nach begrüßenden Worten der Gastgeberin – denen auch zu entnehmen war, dass eine vormals hier vortragende Reiseautorin heute leider nicht anwesend sein könne, da sie sich während ihres jüngsten Aufenthalts in Bangkok spontan die Hüfte habe auswechseln lassen (müssen) – ging es auch schon los.

Während nun das – im übrigen sehr gelungene, aber davon soll hier nicht die Rede sein – Programm seinen Lauf nahm, hörte man aus der letzten Reihe des Öfteren in der Lautstärke kaum gedrosselte Kommentare des Bekrempten im Stile von „Jetzt wird’s langweilig“ oder „Mist, kein Wein mehr da“. Vielleicht war es auch so etwas wie „Mist, ohne Wein wird’s jetzt langweilig.“ Zum Glück war es irgendwann Zeit für eine Snackpause. Diese war im Vorfeld generalstabsmäßig durchorganisiert worden, weswegen es den etwa 30 Anwesenden kaum Mühe bereitete, sich innerhalb von fünf Minuten in der ursprünglich wohl auch nur auf zwei Personen ausgerichteten Küche mit Essen zu versorgen. Danach war allerdings nicht mehr auszumachen, wer im Flur vor dem Bad wartete, weil er einem dringenden Bedürfnis abhelfen wollte, und wer dort nur Zuflucht gesucht hatte, weil er der einzige freie Platz war.

Nach einer Gesprächsrunde mit den beiden Autoren, die mich ein wenig wehmütig an die goldenen Zeiten der anspruchsvollen Fernsehunterhaltung erinnerte, in der im Spätprogramm des ZDF noch Gäste wie Jeanne Moreau und Götz George die Talkshows bevölkerten, statt wie heute Veronica Ferres und Til Schweiger, hieß es von den meisten Besuchern Abschied nehmen. Der Herr mit dem Hut, der vorher noch schnell ein paar Flyer unter die Leute gebracht hatte, auf denen allerdings lediglich ein Foto von ihm selbst mit seinem Hut sowie ein mysteriöses Wort abgedruckt waren, verfehlte die Tür dabei nur knapp. Laut der Gastgeberin fand er sich, nachdem sie ihn bereits im Fahrstuhl gesehen hatte, plötzlich doch noch einmal in der Wohnung wieder, was aber lediglich ein kurzes Intermezzo bleiben sollte.

Ob es dann später am Abend so klug war auszuprobieren, ob die Angabe im Lift „für 4 Personen bis 400 Kilo“ auch dann noch gilt, wenn einer der vier bereits die Hälfte davon wiegt und ein anderer noch ein mannshohes Keyboard dabei hat, ist eine Frage, die hier nicht abschließend geklärt werden kann. Ansonsten war es ein deliziöser Abend, der fast das Gefühl in mir erzeugte, ich wäre damals bei Gertrude Stein eingeladen gewesen. Man sollte statt bei Facebook zu verweilen einfach viel öfter Literatursalons besuchen!

Es passiert nur ganz selten, dass ich irgendwo mitbekomme, dass ein Prominenter gestorben ist und mich das dann trifft wie ein Schlag. Zu oft betreffen diese Nachrichten Künstler, die entweder gar keine richtigen waren oder die ihre besten Zeiten schon so lange hinter sich hatten, dass ihr Ableben zumindest künstlerisch kein Verlust ist. Ganz anders bei Moebius, dem wohl größten zeitgenössischen Comickünstler, der am Samstag in die ewigen Jagdgründe eingegangen ist (man verzeihe mir das Wortspiel, aber er hat die indianische Kultur sehr geliebt, wie man seinen „Blueberry“-Alben immer wieder entnehmen kann). Nicht nur, dass mich seine Comics seit mehr als 20 Jahren begleitet haben, auch die Vorstellung, nie wieder etwas Neues von ihm lesen zu können, ist vermutlich vergleichbar mit der Vorstellung, nie wieder eine neue Dylan-Platte zu hören.

Nach Franquin und den großen Altmeistern der Disney-Comics, Barks und Gottfredson, dürfte Moebius alias Jean Giraud der Zeichner sein, von dem ich die meisten Comics gelesen habe – im Wesentlichen alle seine Hauptwerke von Arzach über John Difool bis zu den Sternenwanderern. Dazu viele Kurzgeschichten und Fragmente, die in der Carlsen-Reihe „Universum der Wunder“ gesammelt waren oder in alten „Schwermetall“-Heften verstreut sind. Und dann natürlich Blueberry, den ich leider nie in der richtigen Reihenfolge gelesen habe, das (scheinbar) endlos dahinmäandernde Westernepos, mit dem er (zusammen mit oder trotz?) dem Szenaristen Charlier in den 70ern den europäischen Abentuercomic quasi alleine in die Moderne geführt hat (und das, entgegen gängiger Fanmeinungen, in meinen Augen immer besser wurde, je weiter sich Giraud nach dem Tod seines Partners von dessen Erzählmustern löste).

Der edle Nordstaaten-Leutnant, dem seine moralischen Überzeugungen immer wichtiger sind als die Befehle seiner Vorgesetzten und der dadurch in immer neue Schwierigkeiten gerät (und bei dem man sich des Öfteren fragt, warum er eigentlich überhaupt in die Armee eingetreten ist). Der schließlich selbst zum vom Staat Gejagten und Vogelfreien wird, nachdem er zu Unrecht verdächtigt wurde, einen Anschlag auf den Präsidenten geplant zu haben. Der innerlich zerrissen wird zwischen der Freundschaft zu einem Indianderstamm und der Solidarität mit seinen Armeekameraden. Und der sich im letzten von Giraud gestalteten Zyklus „Mr Blueberry“ einfach aus allem ausklinkt, nur noch pokernd im Saloon von Tombstone herumsitzt und seinen eigenen Mythos sukzessive zerstört. Den „Blueberry 1900“, den Giraud immer noch machen wollte, werden wir nun wahrscheinlich nicht mehr zu sehen bekommen, aber auch „Mr Blueberry“ ist ein würdiger Abschluss für eine Serie, die in jeden Kanon der wichtigsten Comics aller Zeiten gehört.

Genauso wie „John Difool“, der sechsbändige Zyklus um einen abgehalfterten Privatdetektiv in einer monströsen Megacity der Zukunft, der mehr aus Versehen zur Schlüsselfigur des ganzen Universums wird. Szenarist Alexandro Jodorowsky verknüpfte hier den Tonfall und die Motive des Film Noir mit einer überbordenden SF-Welt, die Moebius unnachahmlich in Szene setzte (wobei einige der Einfälle schon im von Dan O’Bannon geschriebenen Vorgängerwerk „The Long Tomorrow“ steckten). Sagen wir mal so: Ohne John Difool wäre Ridley Scotts „Blade Runner“ nur schwer vorstellbar (und George Lucas‘ Stadtplanet Coruscant in Episode II überhaupt nicht). In John Difool tauchte auch der weiße Vogel wieder auf – als witziger Sidekick Dipo, die Betonmöwe -, den Moebius schon in einem seiner ersten SF-Comics etablierte: In den wortlosen Kurzgeschichten – wobei Geschichten auch das falsche Wort ist, denn rein narrativ passiert in ihnen nicht allzu viel – um Arzach. Dieser „Held“, der in jeder Story einen anderen Namen trägt, fliegt auf einem großen weißen Vogel durch eine Fantasywelt, in der alles möglich erscheint. Was auch für die frühen Werke gilt, die Giraud unter seinem bekannten Pseudonym gezeichnet hat. Die Maßstäbe der Logik darf man an diese Werke nie anlegen, was zählt, ist der Flow und die ständige Überraschung.

In den letzten Jahren hat sich Moebius bei seinen fantastischen Comics eher wiederholt, indem er seine alten Figuren in neue Abenteuer führte, die nicht mehr an die Urwerke anknüpfen konnten, während er als Giraud mit seinem Blueberry alle Grenzen hinter sich ließ. Vielleicht lag das daran, dass es im 21. Jahrhundert längst viel verwegener wirkte, einen realistisch gezeichneten Westerncomic zu machen als abgefahrene SciFi-Alben. Jan Kounen hat vor mehr als zehn Jahren in seinem Film versucht, beide Welten zusammenzubringen: den klassischen (Italo-)Western, den die Blueberry-Comics feiern, und die esoterisch-drogengeschwängerten Ideen und Bilder der Moebius-Comics. Die Fans der Serie mochten das überhaupt nicht, Giraud selbst fand es wohl großartig. In deutschen Nachrufen wird er oft darauf reduziert, dass er viele Filme beeinflusst habe und auch selbst an SF-Kinoklassikern mitwirkte (meist nur durch Kostümentwürfe oder Storyboards). Das zeigt, dass der Comic hierzulande immer noch nicht als vollwertige Kunstform anerkannt ist. Sonst würde man Girauds Werk einfach für sich sprechen lassen und schreiben: Wenn Sie es noch nicht getan haben, lesen Sie seine Bücher. Sonst haben Sie echt etwas verpasst.

Im aktuellen „Fandom Observer“ (einem traditionsreichen SF-Fanzine) findet sich eine hoch interessante Titelgeschichte über Buchblogger, negative Rezensionen und darüber, wie Autoren und Verleger mit diesen umgehen. Ich muss den Kommentatoren im FO-Blog Recht geben: Der Artikel ist tatsächlich hervorragend recherchiert und könnte im Grunde auch im „Spiegel“ stehen. Anlass waren unfassbare Vorwürfe eines Buchautors und seiner Verlegerin, die einer Bloggerin nach einem Verriss  in den Kommentaren mit rechtlichen Schritten drohten. Was es nicht alles gibt…

Tom Kummer als Wertanlage

Veröffentlicht: 3. Dezember 2011 in Bücher, Journalismus
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Das ist ein Scherz, oder? Könnte ja noch verstehen, wenn Maxim Billers „Esra“ zu solchen Preisen angeboten würde, denn das wurde ja gerichtlich verboten, bevor es überhaupt erschien. Aber dieser (Fake-)Interviewband war doch regulär im Handel. Da müssten doch noch einige Tausend Exemplare von rumschwirren.

Zurzeit lese ich David Simons Reportagebuch „Homicide – Ein Jahr auf mörderischen Straßen“ und gucke parallel die zweite Staffel seiner Serie „The Wire“ (weil’s die bei Saturn gerade für 10 Euro gab). Mit der Serie, die viele ja für die beste der TV-Geschichte halten, bin ich vorher nie warm geworden, obwohl ich es mehrmals versucht habe. Über die ersten sieben Folgen kam ich aber nicht hinaus. Die zweite Staffel gefällt mir hingegen von Anfang an wesentlich besser. Ich weiß nicht, woran das nun konkret liegt, aber das Milieu der Hafenarbeiter, die Gewerkschafter, die verzweifelt ums Überleben ihrers Berufsstands kämpfen, das ist eine Welt, über die ich noch nie einen Film gesehen habe. Wie sich die dann zunehmend verknüpft mit den kriminellen Milieus der Stadt, dem Drogenhandel, Schmuggel, Prostitution und wie die verschiedenen Polizeiabteilungen auf der anderen Seite versuchen, das Ganze aufzudecken – das entwickelt schon einen Sog, der einen in diesen ganzen Kosmos hinein zieht. Chris Bauer, der den polnischstämmigen lokalen Gewerschaftsboss spielt, ist auch einfach ein verdammt guter Schauspieler, was er hier auch endlich mal in allen Facetten zeigen darf. Nach wie vor unfassbar ist natürlich die Sprache, insbesondere die Dialoge der schwarzen Drogenhändler wären ohne Untertitel praktisch nicht zu verstehen.

Interessant sind auch die zahlreichen Übereinstimmungen zwischen dem Buch und der Serie. Simon hat ja ein Jahr lang als Reporter die Arbeit der Baltimorer Mordkommission beobachtet und diese Beobachtungen fließen natürlich auch in die Serie ein. Ich weiß z.B. nicht, ob ich, ohne das Buch zu kennen, verstanden hätte, was die roten Namen auf der Tafel mit den Fällen bedeuten. In beiden Werken spielt die Hierarchie innerhalb der Polizei eine wichtige Rolle. Vorgesetzte erscheinen meistens umso unsympathischer, je höher sie in der Befehlskette angesiedelt sind. Da geht’s dann nur noch um Politik, das eigene Fortkommen und darum, in der Öffentlichkeit möglichst gut dazustehen, während die einfachen Detectives das alles ausbaden müssen. Wobei einer der Seargents der Mordkommission in „The Wire“ den Namen eines tatsächlich existierenden trägt, der zu den Protagonisten des Buchs zählt. Die Figur in der Serie kommt aber wesentlich unsympathischer rüber.

Während die Drogendealer im Buch durchgehend als böse erscheinen, wirken ihre Entsprechungen in der Serie ambivalenter. Einerseits skrupellos und gewalttätig, andererseits aber auch cool und teilweise fast witzig. Ich möchte auch nicht wissen, wie viele Straßenkids in anderen Städten sich diese Typen und ihre Sprache  zum Vorbild genommen haben. Baltimore wird sowohl im Buch wie auch in der Serie als Hort der Gewalt und des Niedergangs beschrieben. Eine Stadt, in der ein Menschenleben nichts zählt, jedenfalls nicht, wenn es sich um einen Ghettobewohner handelt, eine Stadt ohne Moral, ohne Sicherheit und letztlich ohne Zukunft. Das ist größtenteils so negativ, dass man sich eigentlich kaum vorstellen kann, dass es solche Städte mitten in den USA tatsächlich gibt – es erinnert eher an eine Metropole in einem Dritte-Welt-Land. Mit ehrlicher Arbeit lässt sich dort kein Leben mehr aufbauen, die einzigen erfolgreichen Kapitalisten sind die Oberbosse des Drogenhandels – einer von ihnen studiert dann auch folgerichtig BWL. Die einzigen ehrlichen Menschen in der Stadt scheinen die Polizisten zu sein. Korruption ist praktisch kein Thema, was mich ziemich wundert, da ich vermuten würde, dass diese gerade in solch einem sozioökonomischen Umfeld besonders blüht. Da ist selbst in rein fiktiven und oft als weniger realistisch angesehenen Cop-Shows wie „Third Watch“ Korruption ein viel stärkeres Thema.

Zu meinen Lieblingsserien wird „The Wire“ wahrscheinlich nie zählen, dazu ist sie mir einfach zu nüchtern erzählt, die Charaktere nicht zwingend genug. Moralische Fragen bleiben eher unter der Oberfläche, die Figuren laden nicht so sehr zur Identifikation ein, als das man sich diese Fragen an ihrer Stelle stellen würde. Das Ganze ist eher eine semidokumentarische soziologische Langzeitstudie, allerdings eine durchaus faszinierende und sogar unterhaltsame, wenn man denn einmal den Zugang gefunden hat.

Videotipp: Fauser beim Bachmann-Preis

Veröffentlicht: 19. Juli 2011 in Bücher
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Wer mal sehen will, wie Marcel Reich-Ranicki und noch ein paar andere Literaturpäpste sich um Kopf und Kragen reden, sollte sich ihre Jurybegründungen zu Fausers Auftritt 1984 nicht entgehen lassen. Abgesehen davon, dass ich nicht verstehe, warum Fauser da angetreten ist, da dieser Wettbewerb ja alles verkörperte, was er am Literaturbetrieb verachtete, ist das ein schönes Beispiel für die geistige Selbstbefriedigung solcher Veranstaltungen. Genau, Herr MRR, wir sortieren erst mal alles schön in E und U, und für U erklären wir uns dann nicht zuständig. Aber er meinte ja auch mal, er interessiere sich nicht für Romane über südamerikanische Landarbeiterinnen. Wahrscheinlich nur für welche über alte europäische Männer in Lungensanatorien.

Heinz Harder war bis vor ein paar Jahren ganz oben: ein Starjournalist, der für die größten Illustrierten mehrteilige Reportagen schrieb. Bis er wegen zweifelhafter Methoden (Einbrüchen, um an Informationen zu kommen, erfundene Geschichten etc.) in seiner Branche in Ungnade fiel und seitdem als Gebrandmarkter keine Aufträge mehr bekommt. Um über die Runden zu kommen, betätigt er sich als „Bergungsexperte für außergewöhnliche Fälle“. Als die ebenso laszive wie undurchsichtige Ex-Frau eines ehemals einflussreichen Politikers ihn beauftragt, ihre vermisste jugendliche Tochter zu suchen, wird er in einen Fall hineingezogen, in den neben der Berliner Landespolitik auch noch zwielichtige Geschäftsleute, skrupellose Menschenhändler, und verblendete Anhänger eines Schlangenkultes verwickelt sind.

„Das Schlangenmaul“ von 1985 war Fausers einziger lupenreiner Kriminalroman, nicht im Sinne von „Who dunnit?“, sondern im Stil der Hardboiled-Romane von Chandler & Co. Sein Harder ist ein deutscher Phillip Marlowe: ein gesellschaftlicher Außenseiter und Beobachter, mit trockenem Humor, der als Einziger moralisch sauber bleibt, egal, welchen Morast der Korruption er durchwaten muss. Sein Einsatzort ist nicht L.A., sondern das West-Berlin der mittleren 80er Jahre, eine merkwürdig hermetische Welt, ein Niemandsland, das nicht zur DDR, aber auch nicht richtig zur BRD gehört. Zufluchtsort für jede Art dubioser Gestalten, die alle das Gleiche suchen: das große Geld. Manche nutzen dazu die Politik, manche die (Zwangs-)Prostitution, wieder andere die Naivität verblendeter Esoteriker. Und manche schrecken zur Erreichung ihrer Ziele auch nicht vor Mord zurück.

Fausers Roman ist nicht nur die faszinierende Beschreibung einer verloren gegangenen Welt, die die Nachgeborenen nur noch aus Erzählungen und Filmen kennen, einer Welt, in der alle Straßen an der Mauer enden, eines Hortes für Glücksritter aus ganz Westdeutschland. Er ist auch ein herrlich ironischer Journalismusroman. Harder, der ganz in Chandlers Tradition seine Geschichte in der Ich-Form erzählt, spart nicht mit bissigen Seitenhieben auf seine Branche, die er in ihrem Kern genauso leidenschaftlich liebt wie er ihre modernen Auswüchse verabscheut. Deshalb hat er trotz des Siegeszugs des Boulevards den Traum von der nächsten großen Artikelserie und von der einen wahren Zeitschrift immer noch nicht ausgeträumt. Wie bei Chandler hat aber auch bei Fauser die Welt eigentlich keinen Platz mehr für diesen kleinen Träumer. Was den nicht daran hindert, weiter seinen Weg zu gehen.

Stilistisch ist Fauser hier brilliant: ebenso dichte wie metaphorische Beschreibungen des grell-grauen Großstadtalltags wechseln sich mit herrlich lakonischen Dialogen ab. Wen interessiert da noch, dass das Komplott, das Harder aufdecken will, zunehmend ausufernder erscheint, bis man den Überblick teilweise verloren hat? Auch das ist ja im Grunde fast ein Markenzeichen der Schwarzen Serie. Selbst Bogart soll ja die Story von „Tote schlafen fest“ nie verstanden haben. Für die Bavaria, die wohl mal die Filmrechte an dem Stoff gekauft hatte, war die fehlende Stringenz des Plots laut Nachwort der Grund, warum sie ihn dann doch nie verfilmt haben. Völlig unverständlich, drängen sich bei vielen Dialogen die Bilder dazu doch förmlich auf. Als Harder sah ich beim zweiten Lesen (bei dem ich den Roman übrigens noch viel besser fand, als ich ihn in Erinnerung hatte) ständig Rainer Werner Fassbinder vor mir, in seinem weißen Anzug mit schwarzem Hemd. Maja Maranow hätte eine gute Aufraggeberin abgegeben, so ambivalent-undurchschaubar wie in der „Fahnder“-Folge „Nachtwache“. Was wäre wohl dabei heraus gekommen, wenn Hans C. Blumenberg das Buch verfilmt hätte? Es sagt schon viel über eine Filmindustrie aus, wenn sie auf so einem Stoff sitzt, ohne ihn zu ergreifen.

Bisher meinte ich ja, dass Fauser in der kleinen Form immer am besten war, bei Reportagen oder Kurzgeschichten. Aber dieser Thriller ist vielleicht doch sein opus magnum. Lange Zeit vergriffen, erschienen vor einigen Jahren gleich zwei neue Ausgaben: ein Hardcover und ein Taschenbuch. Das Diogenes-TB ist vorbildlich editiert, neben einem informativen Nachwort von einem Fauser-Freund und Verleger enthält es auch zwei Zeitschriftentexte Fausers, darunter seine „Tip“-Reportage über vermisste Jugendliche in Berlin, die ihn auf die Idee zu dem Roman brachte. Da merkt man dann wieder: Er konnte beides, Wirklichkeit lebendig vermitteln und reale Phänomene weiterspinnen und daraus ein schillerndes fiktionales Werk machen.

Ein Muss für alle heutigen, ehemaligen und zukünftigen Genrefreunde, Detektive, Journalisten und West-Berliner.

Diogenes Taschenbuch 2009. 316 Seiten, 9,90 € (oder in der Werkausgabe-Kassette mit neun Taschenbüchern)

Prophetischer Dialog aus Jörg Fausers  1985er Journalismus-West-Berlin-Privatdetektiv-Krimi „Das Schlangenmaul“:

„…Ich geb dir die Zeitschrift, mach etwas draus, die einzig wahre Zeitschrift, und dann gehen wir in die Neuen Medien.“

„Berlin wird die ganz große Schaltzentrale für diese Medien werden. Und wir werden mitschalten. Radio, TV, Kabel, Bildschirmtext, Video – es gibt Möglichkeiten, von denen wir heute noch fast nichts ahnen.“

„Möglich. Ich komme aus den Printmedien, weißt du, Druck und Papier, alter Praktiker – von der Pike auf…“

„Und jetzt lernst du noch mal von der Pike auf, Harder.“

Wenn man heute von Micky Maus-Comics redet, muss man ja immer erst lang und breit erklären, dass die Figur nicht immer der etwas langweilige, leicht spießige Kleinbürger und Hobby-Polizist war, als der er seit Jahrzehnten hauptsächlich in den Heften und Taschenbüchern auftritt. Jedem, der schon mal einen Fortsetzungs-Zeitungsstrip von Floyd Gottfredson gelesen hat, ist das hingegen selbstverständlich klar. Gottfredson hat den Micky-Zeitungscomic fast von Anfang an, nämlich seit 1930, sagenhafte 45 Jahre lang gezeichnet, die letzten 20 Jahre aber leider auf Drängen des Syndikats nur noch als unverbundene Gagstreifen. Seine Fortsetzungsgeschichten zwischen 1930 und 1955 gelten unter Comicfans noch heute als einer der besten Zeitungscomics überhaupt, meiner Meinung nach ist es sogar einer der zehn besten Comics aller Zeiten.

Bisher wurden sie leider immer nur sporadisch nachgedruckt, in Deutschland z.B. in den 70ern in den großformatigen „Ich, Micky Maus“ und „Ich, Goofy“-Büchern des Melzer Verlags, die dann über die Jahre noch diverse Male von Ehapa und seinem Schwesterverlag Horizont nachgedruckt und durch ähnliche Bände ergänzt wurden. Seit Ende der 80er die ambitionierte Gesamtausgabe „Mickys Klassiker “ nach wenigen Bänden wieder eingestellt wurde, habe ich auf einen neuen Versuch gewartet. Nun ist es zumindest auf Englisch endlich so weit: Fantagraphics hat diesen Monat seine „Floyd Gottfredson Collection“ mit dem ersten Band gestartet und dank günstigem Dollarkurs kann man sich den übers Internet sogar billiger bestellen als eine deutsche Ausgabe vermutlich wäre.

Und es lohnt sich, nicht nur wegen der enthaltenen Comics (fast den ersten beiden Jahrgängen des Strips), sondern auch wegen der fantastischen Aufmachung, dem Design und dem reichhaltigen Zusatzmaterial. Besser kann man eine Gesamtausgabe fast nicht mehr machen. Lediglich die geringe Größe der abgedruckten Strips macht das Lesen auf Dauer etwas anstrengend, zumal das Lettering nicht besonders deutlich ist (und die Sprechblasen eh vor seltsamem Slang strotzen). Aber sonst stimmt hier einfach alles: der aufwändige Einband, die liebevolle Gestaltung der Titelblätter zu den einzelnen Geschichten und Abschnitten und vor allem die Fülle an seltenen Abbildungen und die redaktionellen Artikel. Da schreiben Disney-Insider (Zeichner und Autoren) ebenso wie Berkeley-Professoren. Und man erfährt auch als Disney-Kenner noch so manches Neue. Zum Beispiel wird detaillert erklärt, wer nun eigentlich Mickys Aussehen entwickelt hat (es war natürlich nicht Disney) und wie der Comic Strip überhaupt zustande kam. Abgebildet werden u.a. zu jeder Geschichte internationale Coverabbildungen, aber auch frühes Werbematerial, das Disney Kinobesitzern zukommen ließ. Wir sehen auch, in welchen Comics frühe Nebenfiguren Jahrzehnte später wieder auftauchten usw.

Zeichnerisch üben die ganz frühen Disney-Comics und -Kurzfilme auf mich irgendwie einen besonderen Reiz aus. Diese noch wenig vermenschlichten Figuren, die oft wenig oder gar keine Kleidung tragen, finde ich viel liebenswerter als ihre späteren, perfekteren Inkarnationen. Nicht nur, dass sich antropomorphe Figuren wie Horace Horsecollar alias Rudi Ross wieder in vierbeinige Tiere zurück verwandeln können, wie Horst Schröder im Vorwort zum 1975er „Ich, Goofy“-Band schrieb, es funktioniert auch umgekehrt: Anfangs scheint es nämlich in Mickys Umgebung auch Tiere zu geben, die zwar nicht sprechen können und auch wie Tiere leben, aber trotzdem intelligent zu sein scheinen, und, wenn erforderlich, ihre Vorderbeine als Arme benutzen können. Diese Umgebung nennt Schröder „ländliche Anarchie“, Micky selbst scheint auf einem Bauernhof zu leben, zusammen mit eben den anderen, nicht sprechenden Hoftieren. Gleich in Gottfredsons erster Geschichte „Race to Death Valley“ bricht er aber daraus zusammen mit Minnie  zu einer langen Reise auf, die die beiden bis in den Wilden Westen führt. Schon dieses frühe Abenteuer ist eines seiner besten.

Aber wir begegnen ihm im ersten Band u.a. auch auf der Jagd nach Eierdieben, die Minnies Vater Marcus Maus (!) ruinieren wollen und zusammen mit seinen engsten Freunden (Goofy gehörte damals noch nicht dazu, er wurde erst 1933 eingeführt) auf Campingurlaub, wo sie mit einem Stamm krimineller Zigeuner aneinandergeraten. Ja, auch das gehört natürlich zu einem so alten Comic, dass manche Geschichten arg „historically dated“ sind, wie es auf dem Backcover ausgedrückt wird – sogar Hakenkreuze sind mehrmals zu sehen. In den Einführungen zu den einzelnen Geschichten werden solche politischen Unkorrektheiten aber jeweils in den historischen Kontext eingeordnet – auch das vorbildlich für eine solche Klassikerausgabe. Es ist halt eine inzwischen fremde Welt, in die uns diese Zeitreise entführt, mit anachronistischen Telefonen und Autos, aber auch mit sozialen Missständen, die sich teilweise seitdem nicht wirklich verbessert haben. Als Zeitungsstrip für ein überwiegend erwachsenes Publikum spiegelt er auch oft die gesellschaftspolitischen Gegebenheiten seiner Entstehungszeit wieder, von Massenarbeitslosigkeit bis Inflation. In einer späteren Geschichte von 1938 etwa werden Micky nur Jobs angeboten, von deren Bezahlung man nicht leben kann („3 Dollar die Woche und Käsecracker“).

Kindisch ist an diesen Comics gar nichts, langweilig meist auch nichts – außer, wenn sich Gottfredson an reinen Gagfolgen versucht. Er ist ein Meister des Spannungsaufbaus von Tag zu Tag, immer wieder schafft er es, mit aussichtslos erscheinenden Cliffhangern und erzählerischem Zeitraffer (dem Ablaufen eines Ultimatums etwa), den Leser zu fesseln. Der Humor kommt dabei trotzdem nicht zu kurz, wenn er in den ersten Jahren auch oft noch etwas brachial und slapstickhaft ist. Anders als in heutigen Disney-Comics wird hier gefoltert und mit Erhängen gedroht, in einer Geschichte versucht Micky gar über mehrere Seiten, sich aus Liebeskummer umzubringen. So erwachsen wie hier war Disney danach bis zu Don Rosas Dagobert-Biografie in den 90ern nicht mehr – und Micky wohl überhaupt nie wieder.

Jetzt bleibt nur zu hoffen, dass Fantagraphics einen langen verlegerischen Atem beweist und dass der Dollarkurs möglichst wenig steigt. Und für alle, die keine englischen Comics lesen wollen oder können, dass Ehapa sich vielleicht doch noch mal zu einer deutschen Ausgabe entschließt. Aber angeblich sind Micky-Comics ja Kassengift. Gottfredsons sind Carl Barks‘ Duck-Geschichten aber mindestens ebenbürtig. Und Micky war darin tatsächlich der vielleicht größte Held, den die Comics bis dahin gesehen hatten.