„An der Straßenecke spielt sich alles ab. Hier gehst du hin, um deinen Stoff zu kaufen. Und um zu erfahren, wer letzte Nacht erschossen wurde.“
„The Corner“ ist eine sechsteilige HBO-Miniserie von „The Wire“-Co-Creator David Simon und seinem Kollegen David Mills. Zwei Jahre vor seinem größten Erfolg legt Simon hier bereits viele seiner späteren Themen und Figurenkonstellationen an. Der Film basiert auf dem Sachbuch „The Corner: One Year in the Life of an Inner-City Neighbourhood“, für das Simon und der spätere „The Wire“-Co-Creator Ed Burns während Simons Zeit als Polizeireporter bei der Baltimore Sun recherchiert haben. Thema, Schauplatz und Ausgangsituation sind im Grunde dieselben wie in „The Wire“, der Schwerpunkt liegt hier aber eher auf den Süchtigen, nicht so sehr auf den Drogenhändlern und noch weniger auf den Cops.
Mit der „Corner“ ist die Ecke Lafayette/Monroe Street in West Baltimore gemeint, einem ehemaligen gehobenen Mittelstands-Viertel, das in den letzten Jahrzehnten durch Drogenhandel und -konsum zu einer Art Slum verkommen ist. Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Familie von Gary McCallough, einem ehemaligen viel versprechenden Collegestudenten, der durch Aktien viel Geld gemacht und sich mit seiner Frau Fran und ihren beiden Kindern in dem Viertel ein Haus gekauft hat. Bevor er sein Geld wieder verlor, Fran und später er selbst heroinabhängig wurden und die Gegend vor die Hunde ging.
Jetzt streift Gary antriebs- und ziellos durch sein Leben, immer auf der Suche nach ein paar Dollarn, um sich den nächsten Schuss zu besorgen. Dafür montiert er Wasserleitungen ab, um das Metall zu verhökern oder räumt Wohnungen aus. Seine Ex-Frau Fran hängt ebenfalls an der Nadel und versucht dabei irgendwie, ihre beiden Söhne durch zu bringen, während der ältere der beiden, DeAndre, an der Straßenecke Drogen verkauft.
Nicht besser steht es um die anderen Figuren: Fast alle sind entweder süchtig, Dealer oder beides. Das Viertel wirkt wie die Parodie einer funktionierenden Nachbarschaft: Einerseits kennt jeder jeden und mit Ausnahme der rivalisierenden Drogengangs sind auch alle nett zueinander und helfen sich gegenseitig, weil ja auch alle in der selben Scheiße stecken. Andererseits schreckt niemand davor zurück, für den nächsten Schuss seinen Nachbarn zu verraten oder zu bestehlen.
In geschickt eingebauten kurzen Rückblenden sehen wir, wie das Viertel früher aussah, als die Nachbarschaft tatsächlich noch lebenswert war, und verfolgen teilweise den unaufhaltsamen Niedergang der McColloughs, auch wenn nicht alles erklärt und vieles davon der Interpretation des Zuschauers überlassen wird.
Immer wieder scheint Hoffnung für die Hauptprotagonisten auf: DeAndre versucht wiederholt, mit dem Dealen aufzuhören, wieder zur Schule zu gehen oder zu arbeiten. Als seine Freundin ein Kind von ihm bekommt, versucht er, ein guter Vater zu sein. Fran macht eine Entziehungskur und versucht, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Was nicht leicht ist, wenn Schwester, Ex-Mann und fast alle Freunde noch an der Nadel hängen. Trotz aller Momente der Besserung ahnt man als Zuschauer, dass es für einige der Protagonisten nicht gut ausgehen wird.
Der Film ist in einem pseudodokumentarischen Stil gedreht, was gut zu der weitestgehend wahren Geschichte passt. Wie in „The Wire“ und den meisten anderen HBO-Serien entwickelt sich die Handlung recht langsam und es gibt ein großes Figurenensemble, das den ganzen Mikrokosmos des Viertels repräsentieren soll. Der Handlung lässt sich aber wesentlich besser folgen als bei Simons späterer Serie und man wird schneller hineingezogen. Die Darsteller sind durchweg sehr gut, allen voran Khandi Alexander, die man aus ER kennt, als Fran. Die Story ist ziemlich harter Stoff, aber wenn man bedenkt, dass die dargestellte Welt der Realität in Baltimore und anderen amerikanischen Städten entspricht, lohnt es sich umso mehr, sich dem auszusetzen.
Am Ende treten die realen Personen vor die Kamera, die in den sechs Stunden zuvor von Schauspielern verkörpert wurden – jedenfalls die wenigen, die überlebt haben und nicht im Knast sitzen. Der Film solle den Zuschauern zeigen, dass auch Junkies nichts anderes als menschliche Wesen seien, die Fehler machen, sagt die reale Fran. Krank scheinen in Städten wie Baltimore nicht nur die Abhängigen zu sein, sondern vor allem das Sytem, das sie hervorbringt, das zeigt Simon hier genauso eindringlich wie in „The Wire“, aber wesentlich kurzweiliger.
Überschrift: Randy Newman, „Baltimore“