1979 begründete eine WG ihre Abokündigung der taz mit dem schönen Satz: „Diese Regelmäßigkeit, mit der die taz täglich erscheint, strukturiert die Tage so künstlich, das mißfällt uns eben.“ Dieser Brief findet sich in einem Rowohlt-Taschenbuch von 1999, in dem einige der kontroversesten Leserbriefschlachten der ersten 20 Jahre taz-Geschichte versammelt sind: „Macker! Schlampe! Heuchlerbande!“ Um die großen Themen der 80er und 90er Jahre geht es da: Golfkrieg, RAF, Anti-AKW- und Frauenbewegung, südamerikanische Befreiungsbewegungen.
Einige Debatten werfen durchaus grundsätzliche und noch immer bedeutende Fragen auf: Darf Gewalt ein Mittel zum Widerstand sein oder ist Pazifismus in jedem Fall vorzuziehen? Soll eine alternative Zeitung gesellschaftlichen Gegenbewegungen Platz zur Verfügung stellen, um subjektiv über ihre Themen zu berichten oder ist eine objektive Berichterstattung von Journalisten in jedem Fall angebrachter? Einige der Debatten und Argumente sind aber aus heutiger Sicht überhaupt nicht mehr nachvollziehbar und wirken oft unfreiwillig komisch.
So findet sich unter der schönen Überschrift „Revolutionäre Heimwerker“ eine Debatte um AKW-Gegner, die als Mittel des Widerstandes Strommasten mit Metallsägen umsägten. Auf die Interview-Aussage eines Aktivisten: „Trotzdem muss man wegen des Kurzschlusses so abhauen, daß man immer nur kleine Schritte macht und dabei immer ein Bein auf dem Boden behält.“, antwortet eine „Berufsgenossenschaft der Heimwerker“ mit dem guten (und ernstgemeinten) Rat: „hüpfen; also immer nur einen Fuß auf dem Boden haben. Oder mit beiden Beinen gleichzeitig springen.“ Gerne stelle ich mir vor, wie die Aktivisten auf einem Bein hüpfend vor der Polizei flüchten.
Die skurrilsten Blüten treiben die Diskussionen allerdings, wenn es um Gender-Fragen geht. So stellte 1981 eine Frauengruppe einen Forderungskatalog auf, der u.a. ein „Ausgehverbot für Männer ab 20 Uhr“ enthielt (damit Frauen sich ohne Angst abends auf der Straße bewegen können). Antwort eines männlichen Lesers: „Ich verpflichte mich schon heute, um 19.40 Uhr nach Hause zu gehen. Dann habe ich noch viel Zeit für meinen Papagei, er fühlt sich sehr vernachlässigt, und dann kann ich mir auch gemütlich das deutsche Fernsehprogramm ansehen.“ Ein pornographischer Text eines Autoren mit dem Pseudonym „Gernot Gailer“ führt nicht nur zu „Schwanz ab“-Rufen von Leserinnen, sondern auch zu heute ziemlich absurd zu lesenden Selbstbezichtigungen männerbewegter Leser, die beklagen, „19 Jahre Chauvinismus“ hätten sie ja erst zu dem gemacht, was sie wären, nämlich bemitleidenswerte triebgesteuerte Wesen, die heimlich Pornos gucken, was sie immer gleich mit Frauenverachtung gleich setzen. Eine ferne Welt tut sich hier für die heutigen LeserInnen auf, die Welt der Frauen- und Männergruppen, in denen alles ausdiskutiert werden musste, auch die intimsten Gefühle, und wegdiskutiert, wenn diese nicht den gängigen Vorstellungen von einem „guten linken“ Leben entsprachen. Schön gestrig auch Formulierungen wie „Ich fühle mich durch den Artikel als Frauenkörperbesitzerin persönlich beleidigt.“ Fehlt nur noch die Anrede „Liebe FrauenkörperbesitzerInnen“. Dass man Sexualität eh nicht auf Hetero- oder Homosexualität beschränken sollte, mahnt eine „Würzburger Runterholgruppe (WüRG)“ an: „Wir meinen, daß gerade, … in Eurer (unserer?) Zeitung auch einmal über Probleme der Autosexualität diskutiert werden muß!“
Manche Diskussionen wünscht man sich wirklich nicht zurück. Auffallend ist aber doch, wie brav die taz in den letzten Jahren geworden ist. Von 1980 bis 1991 lief eine Spendenaktion, mit der unter den Lesern Geld für Waffen für die Guerilla in El Salvador gesammelt wurde. So fragwürdig das war: Was ist von diesem linken Geist geblieben? Wenn ich die aktuelle Samstagsausgabe der taz durchblättere, stoße ich auf genau zwei Seiten, auf denen ich Themen und Positionen finde, die so nicht in der SZ oder der FR auftauchen: die Meinungsseiten. Alles Andere ist zwar gut gemacht, teilweise überdurchschnittlich gut geschrieben, aber inhaltlich und thematisch Mainstream. Das einzig Alternative an der taz scheint noch ihre Organisationsform zu sein (Genossenschaft statt Großverlag, Redaktionsstatut, Frauenquote, Einheitslohn etc.). Publizistisch scheint sie seit der Regierungsbeteiligung der Grünen weitgehend im bürgerlichen Lager angekommen zu sein (wenn ich jetzt mal, was ich tue, voraussetze, dass auch die Grünen längst zum Bürgertum gehören).
Eine alternative Themensetzung, revolutionäre Ideen oder das Aufzeigen von Alternativen zum real existierenden Kapitalismus finden sich heute eher selten. Erstaunt hat mich vor einiger Zeit, als ich las, die Leserschaft der taz wähle noch immer zum Großteil grün. So wie die Grünen im Establishment angekommen sind, so ist wohl auch die Mehrheit der taz-Leserschaft älter und etablierter geworden. Statt in der WG lebt man in der Kleinfamilie, Atomstrom findet man immer noch böse, aber im Kapitalismus hat man sich längst ganz komfortabel eingerichtet. Wer sich für wirklich links hält, liest wahrscheinlich heute eher die „Jungle World“, den „Freitag“ oder die „junge welt“, falls man zu den Dogmatikern gehört. Wie links ist die taz noch?