Eine Erregung fast Proust’schen Ausmaßes ergriff mich, als ich mich gestern auf den Weg zum ersten Literatursalon meines nicht mehr ganz so jungen Lebens machte. Wein, Speis und Gesang waren mir von kundigen Stammgästen verheißen worden, eventuell sogar Weib. Allerdings auch, dass der Altersdurchschnitt der Besucher schon alleine durch mein Auftauchen beträchtlich gesenkt werden könne. Tatsächlich fand ich, nachdem ich auf dem unbeleuchteten Fahrrad meinen Weg durch mir bis dato völlig unbekannte Wohnviertel meines Stadtteils gefunden hatte (wobei ich an einer roten Ampel von einer radfahrenden älteren Besucherin des Salons überholt worden war, der im Gegensatz zu mir wohl die Geduld fehlte, jetzt noch auf so etwas Profanes wie Verkehrsregeln acht geben zu müssen), beim Eintreten in die Wohnung eine Schar überwiegend schon etwas reiferer Herrschaften vor.
Während die Groupies der beiden eingeladenen Schriftsteller bereits im Backstagebereich – der wohl im Alltag die Bibliothek war – ungeduldig mit den Füßen scharrten, suchte ich mir einen Platz in der vorletzten Reihe. Wenig später traf noch ein mittelalter Herr mit einem großkrempigen schwarzen Hut ein, nahm auf dem Sofa hinter mir Platz und seine auffällige Kopfbedeckung für den Rest des Abends nicht mehr ab, wohingegen der Alkoholgehalt seines Blutes stetig zunahm. Ich beobachte bei Lesungen immer wieder, dass der Genuss des einen oder anderen Glases Rotweins für viele Besucher ein Hauptgrund zu sein scheint, das eigene Haus zu verlassen. Nach begrüßenden Worten der Gastgeberin – denen auch zu entnehmen war, dass eine vormals hier vortragende Reiseautorin heute leider nicht anwesend sein könne, da sie sich während ihres jüngsten Aufenthalts in Bangkok spontan die Hüfte habe auswechseln lassen (müssen) – ging es auch schon los.
Während nun das – im übrigen sehr gelungene, aber davon soll hier nicht die Rede sein – Programm seinen Lauf nahm, hörte man aus der letzten Reihe des Öfteren in der Lautstärke kaum gedrosselte Kommentare des Bekrempten im Stile von „Jetzt wird’s langweilig“ oder „Mist, kein Wein mehr da“. Vielleicht war es auch so etwas wie „Mist, ohne Wein wird’s jetzt langweilig.“ Zum Glück war es irgendwann Zeit für eine Snackpause. Diese war im Vorfeld generalstabsmäßig durchorganisiert worden, weswegen es den etwa 30 Anwesenden kaum Mühe bereitete, sich innerhalb von fünf Minuten in der ursprünglich wohl auch nur auf zwei Personen ausgerichteten Küche mit Essen zu versorgen. Danach war allerdings nicht mehr auszumachen, wer im Flur vor dem Bad wartete, weil er einem dringenden Bedürfnis abhelfen wollte, und wer dort nur Zuflucht gesucht hatte, weil er der einzige freie Platz war.
Nach einer Gesprächsrunde mit den beiden Autoren, die mich ein wenig wehmütig an die goldenen Zeiten der anspruchsvollen Fernsehunterhaltung erinnerte, in der im Spätprogramm des ZDF noch Gäste wie Jeanne Moreau und Götz George die Talkshows bevölkerten, statt wie heute Veronica Ferres und Til Schweiger, hieß es von den meisten Besuchern Abschied nehmen. Der Herr mit dem Hut, der vorher noch schnell ein paar Flyer unter die Leute gebracht hatte, auf denen allerdings lediglich ein Foto von ihm selbst mit seinem Hut sowie ein mysteriöses Wort abgedruckt waren, verfehlte die Tür dabei nur knapp. Laut der Gastgeberin fand er sich, nachdem sie ihn bereits im Fahrstuhl gesehen hatte, plötzlich doch noch einmal in der Wohnung wieder, was aber lediglich ein kurzes Intermezzo bleiben sollte.
Ob es dann später am Abend so klug war auszuprobieren, ob die Angabe im Lift „für 4 Personen bis 400 Kilo“ auch dann noch gilt, wenn einer der vier bereits die Hälfte davon wiegt und ein anderer noch ein mannshohes Keyboard dabei hat, ist eine Frage, die hier nicht abschließend geklärt werden kann. Ansonsten war es ein deliziöser Abend, der fast das Gefühl in mir erzeugte, ich wäre damals bei Gertrude Stein eingeladen gewesen. Man sollte statt bei Facebook zu verweilen einfach viel öfter Literatursalons besuchen!